Das Video „Majorana 1 Explained: The Path to a Million Qubits“ von Microsoft ist ein Marketing-Video, verpackt in der Hülle einer Kurz-Dokumentation.

Das Video ist hochwertig produziert. Die Bilder erzeugen eine Atmosphäre der Natürlichkeit, der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten. Gleich zu Beginn kann ich das Wasser hören, den Wald riechen und Natur und Technologie im gleichen Maß bestaunen.

Außerdem greifen die Produzent:innen auf verschiedene Techniken des Storytellings zurück, um nicht nur ein Produkt zu zeigen, sondern eine Geschichte zu erzählen, die aus der Perspektive der Hauptfiguren der Entwicklung des Chips erzählt wird.

Sie zeigen uns nicht nur ein Produkt, sie erzählen die persönlichen Geschichten der Mitwirkenden.

Intro

Gleich der erste Satz greift auf die Storytelling-Technik der offenen Schleifen zurück:

What would the world look like with a computer that could accurately model the laws of nature?

Wie würde eine solche Welt aussehen? Unser Gehirn beginnt zu arbeiten und sich mit der Frage zu beschäftigen. Die Frage ist gleichzeitig eine Filter. Diejenigen, die an dem Thema interessiert sind, wollen mehr wissen, sie werden das Video schauen. Alle anderen will und muss das Video nicht ansprechen.

Die ersten eineinhalb Minuten bis zum Timecode 01:24 sind ein Teaser dessen, was folgt. In aller Kürze spricht das Video die Probleme der Entwicklungen in der Vergangenheit an und präsentiert die Lösung in Form des neuen Chips. Es werden mehrere offene Schleifen erzeugt.

  • Was ist das neue Material, von dem sie sprechen? (TC 00:32)
  • Welche Probleme genau können mit dem Chip gelöst werden? (TC 00:52)
  • Auf welche Weise wird die Technologie verschiedene wissenschaftliche Gebiete revolutionieren?

Das Intro bis TC 01:24 ist der Hook. Es zeigt, was war (den bisherigen Status-Quo), was ist (was haben wir da entwickelt) und wie die Zukunft dadurch verändert wird (unser Chip ist eine Revolution).

Außerdem lernen wir im Intro drei der Hauptfiguren kennen. Die Geschichte wird aus ihrer Perspektive erzählt. Wir bekommen den Eindruck, eine Dokumentation zu sehen und nicht ein bis ins kleinste Detail geplantes Marketing-Video.

Das Intro erinnert mich an die Opening Titles von Mission Impossible: Fallout.

Zukunft – Vergangenheit – Zukunft …

Das Video erzählt uns zwei persönliche Geschichten der Wissenschaftler:innen Dr. Kriysta Svore und Dr. Matthias Troyer. Sie erzählen, was sie an Quantencomputern interessiert und wie sie bisher unerreichte Rechenleistung erreichen und bisher unlösbare Aufgaben mit den Computern lösen können.

Erst dann erklärt uns Krysta Svore die Zahlen, Daten und Fakten, um die unfassbare Rechenleistung darzustellen.

Das Video macht uns mit den Figuren bekannt, damit wir ihnen vertrauen und die folgenden Zahlen und Daten (ohne nachzudenken) glauben. Wir bauen eine Beziehung zu den Figuren auf.

Die Zahlen und Daten werden außerdem in Bildern erklärt – wie bei TC 02:30:

These calculations are so complicated, that if a classical computer was as big as the entire planet – it would still not be able to compute it.

Mit to compute it ist die Berechnung von 30 Elektronen gemeint, die davor im Video als Referenzwert angesprochen wird. Ein Quantencomputer hingegen schafft das, sagt Zulfi Alam.

Der Block des Videos öffnet uns eine Welt der Möglichkeiten durch Quantencomputer. Wir wissen nun, wie mächtig der Chip ist (oder glauben es zu wissen) – und als Beweis wird die Funktionsweise und der technische Aufbau vorgestellt.

Es ist das Äquivalent zum Social Proof im Marketing. Schöne (oder spektakuläre) Worte allein sind kein Beweis, zufriedene Kund:innen hingegen schon. Die gibt es bei dem Chip noch nicht (da noch daran geforscht wird) aber der technische Aufbau ist gleichzusetzen mit dem Beweis dafür, dass der Chip funktioniert (wir dürfen aber an keiner Stelle vergessen, dass es nach wie vor ein Marketing-Video ist – die versprechen häufig mehr als die Produkte halten können).

Bei TC 03:20 wird uns das Problem mit den Qubits vorgestellt – wir haben 27 % des Videos gesehen.

Der Point of no return liegt in der Dramaturgie von Filmen und Büchern bei rund 25 % der Länge. Es gibt kein Zurück mehr, wir betreten eine neue Welt, die Probleme müssen gelöst werden und die Hauptfigur(en) haben ein klares Ziel.

Das Video nimmt sich Zeit, um die Probleme zu erklären – denn ohne Probleme (oder Konflikte) haben wir keine Geschichte. Je größer die Probleme sind (oder dargestellt werden), desto genussvoller, überwältigender und unglaublicher ist die Lösung des Problems.

Bei TC 03:30 werden drei Probleme aufgezählt:

  • Qubit sind instabil
  • Große Qubits sind stabil – aber der Computer hätte die Größe einer Lagerhalle
  • Große Qubits sind langsam – und wir benötigen schnelle Qubits

Die Probleme werden später noch einmal aufgegriffen.

Dr. Chetan Nayak stellt einen Vergleich auf: Am Anfang wurden Computer aus Elektronenröhren gebaut, doch dann kam der Transistor. Die Computer wurden schneller, kleiner und energieeffizienter. Eine noch größere technologische Revolution wird durch den neuen Quantenchip angestoßen.

Er vergleicht da Neue, Revolutionäre mit etwas Bekanntem, damit wir uns was darunter vorstellen können.

Dasselbe machte übrigens George Lucas, der Regisseur von Star Wars. Der (äußerst kurze) Pitch für Star Wars lautete: Jaws in Space. Er verband etwas Bekanntes (den Kultfilm Der weiße Hai) mit etwas Neuartigem, dem Weltraum.

Bei TC 05:05 lässt uns das Video kurz durchatmen, bevor es wieder an Tempo zunimmt.

Das Video steuert nun auf die konkrete Lösung der genannten Probleme zu. Als Überleitung zur Lösung werden offene Schleifen in Form von Fragen erzeugt.

Die Fragen werden kurz danach beantwortet, trotzdem holen sie uns (die Zusehenden) in einen aktiven Zustand zurück, da wir automatisch nach Antworten auf die Fragen suchen. Das Video sichert sich erneut unsere Aufmerksamkeit.

Bei TC 05:58 wird das Majorana-Partikel vorgestellt – ein Höhepunkt im Video, denn dieses Partikel macht alles andere möglich. Nicht ohne Grund sind wir bei fast 50 % der Länge des Videos (bei 48 %, um genau zu sein).

Der Midpoint ist in der Dramaturgie und im Storytelling ein klassischer Höhepunkt – entweder als vermeintliche Niederlage oder als vermeintlicher Sieg.

Bei TC 07:31 greift Kriysta Svore auf ein Trikolon zurück. Als Beschreibung dient eine Dreier-Gruppe an vorteilhaften Eigenschaften: „verlässlich, klein und kontrollierbar“. Denken wir zurück – bei TC 03:30 hat Chetan Nayak drei große Probleme aufgezählt, die hiermit gelöst sind.

Bei TC 07:50 spricht Kriysta Svore von einer Million Qubits, die auf dem Chip möglich sind – genau wie bei TC 06:32, wo sie von „Millionen“ spricht. Die Betonung liegt auf dieser Zahl, sie wird mehrmals wiederholt – wir sollen die Zahl im Kopf behalten. Bei TC 08:33 spricht Kriysta Svore erneut von „over a million“ – sogar zweimal innerhalb von zwei Sekunden.

Kurze Randnotiz zu TC 06:32: „Millions … all in the palm of your hand.“

Die Formulierung erinnert stark an Apples „1.000 Songs in deiner Hosentasche“.

Außerdem vollendet die Formulierung das Bild. Sprachen die Wissenschaftler:innen davor von Computern in der Größe einer Lagerhalle, sind wir nun bei der Größe der Handfläche angekommen.

Bei TC 09:09 kommen wir zum nächsten Höhepunkt, denn Kriysta Svore erzählt uns, dass es keinen vergleichbaren Chip gibt. Sie macht klar: Der Chip ist einzigartig, deshalb ist Microsoft technologisch allen anderen voraus.

Das Timing für den Höhepunkt stimmt – wir sind bei 74 % der Länge.

In der klassischen Dramaturgie befindet sich der Second Plot Point an dieser Stelle.

Im finalen Akt schließt das Video den Kreis, in dem es die offenen Schleifen vom Beginn des Videos beantwortet.

Zulfi Alam erklärt uns, in welchen Gebieten der Quantencomputer von Vorteil ist und wie sehr er die Erforschung neuer Materialien erleichtert.

Bei TC 10:11 stellt Kriysta Svore die Frage in die Kamera: „What can you do with a million Qubits?“

Die Betonung legt sie auf you. Sie zieht uns abermals aus unserer Passivität und macht uns zu aktiven Zuschauer:innen.

Die Frage ist nicht nur an uns gestellt, sondern auch an die Forscher:innen im Video.

Die Antworten sind revolutionäre Zukunftsvisionen, von denen die Wissenschaftler:innen mit Begeisterung erzählen. Das Video wird wieder persönlicher, einnehmender und stimmungsvoller.

Die Visionen steigern sich und entlassen uns mit dem aufregenden Gefühl.

„Majorana 1 ist just the beginning“, sagt Kriysta Svore.

Das kommt mir auch bekannt vor.

Fazit

Das Video ist hervorragend erzählt – es stellt Fragen, erzeugt offene Schleifen und zieht uns in die Geschichte. Sie wird aus der Sicht der Mitarbeitenden des Forschungsprojekts erzählt, mit denen wir sympathisieren. Wir lernen die Figuren auf einer persönlichen Ebene kennen, bevor sie uns in die komplizierte Welt der Quantencomputer entführen.

Die Höhepunkte der Geschichte sind sorgfältig platziert – das Tempo nimmt zu und wieder ab, nur um sich hin zum nächsten Höhepunkt abermals zu steigern.

Kriysta Svore macht uns durch Fragen, die sie direkt in die Kamera stellt, zu aktiven Teilnehmenden.

{"email":"Email address invalid","url":"Website address invalid","required":"Required field missing"}
>